Die Sporttherapie.
Wieso machst Du das eigentlich mit dem vielen Sport?
Wenn mich das jemand fragt, weiß ich manchmal gar nicht, was ich antworten soll. Ich gebe zu, es gibt genügend bequemere Beschäftigungen im Leben, als superdiszipliniert seine Kilometer zu kloppen und Gewichte zu stemmen. Aber dann gibt es Momente, da fällt es mir wieder ein. Meistens sind es gute. Manchmal schlechte.
Irgendwann neulich greife ich zum Handy, einfach so, wie man zum Handy greift, wenn man gar nix Bestimmtes damit vorhat. Eine Nachricht. Eine, wie ich sie noch nie zuvor erhalten habe. Ich muss mich setzen. Aber das ändert leider nichts daran, dass mir der Boden unter den Füßen weggleitet. Für Tage und Wochen. Für die nächsten paar Monate.
Nachdem ich die Nachricht gelesen habe, muss ich laufen gehen. Sehr lange.
»Du weißt und kannst so viel!«, schmeichelte mir neulich wer. Das fällt mir dann beim Laufen wieder ein und ich überlege, was ich tatsächlich so alles weiß und kann:
Ich weiß, wie man mit 70 Kilo Kniebeugen macht, ohne unter der Last zusammenzubrechen.
Ich weiß, wie man eine Stunde Intervalltraining übersteht, ohne zu kollabieren. Wie man 100 Burpees schafft, ohne sich zu übergeben.
Ich weiß, wie man ein fast dreijähriges Kind tröstet, was zu tun ist, wenn es erkältet ist und nicht schlafen kann. Ich weiß, mit welchen Worten man am besten einen Cardigan oder eine Kaffeemaschine beschreibt oder wie man Freunde mit Liebeskummer wieder ein Lachen ins Gesicht zaubert.
»Du weißt und kannst so viel!«, höre ich es wieder. Vielleicht. Eine entscheidende Sache aber weiß ich leider nicht: wie man mit der unerwarteten Krebsdiagnose einer Freundin umgeht.
»Ich bin für Dich da, wann immer Du mich brauchst.«, sag ich
später zu ihr und meine es genau so – ohne zu wissen, was das in Zukunft
bedeutet. Ich habe keinen Schimmer, wie ich helfen kann und komme mir vor, als
bräuchte ich selbst Hilfe.
»Mach
alles, was Du tun musst, damit Du das verarbeiten kannst.«, sagt ausgerechnet
sie mir. Also mache ich viel, viel Sport. Meine Gefühlsfacetten in diesen
Trainingseinheiten reichen von völlig fassungslos über traurig bis hin zu
wütend. Danach geht es mir meist besser.Als wer aus dem Freundeskreis sagt: »Ich habe wieder mit dem Schwimmen angefangen, seit ich das weiß mit dem Krebs.«, da wird es mir wieder bewusst, warum wir das machen mit dem Sport, der manchmal so absurd erscheint. Er kann so unendlich heilsam sein, es ist wie eine Religion, die gute Zeiten schöner macht und in schlechten Zeiten tröstet wie ein Freund. Das ist vielleicht auch mit ein Grund, weshalb Sina trotz ihrer Erschöpfung, trotz der Nebenwirkungen von der schweren Chemotherapie immer in Aktion bleibt. Sie marschiert durch ihre Hamburger Umgebung und schafft bis zu 15 Kilometer am Tag. Chemo-Walks nennt sie diese XXL-Spaziergänge. Ja, manchmal läuft es eben scheiße – mit exzessiver Bewegung scheint es sich aber einfach besser zu ertragen. Denn Fakt ist, wir machen es für eine Sache: fürs Leben.
Als ich Sina dann das erste Mal ohne Haare sehe, sehe ich nur leuchtende Augen und eine bezaubernde Person, die meine Freundin ist. Eine Freundin, die trotz aktueller Arschlochsituation die Lebensfreude und den Kampfgeist nicht verloren hat. Und dann kommt endlich der Tag, an dem ich erfahre, dass ihre Therapie überstanden ist. Ich muss natürlich laufen gehen. Sehr lange und dabei trage ich ein Lächeln im Gesicht.
Kommentare
Sehr schöner, Mut machender Post.
Klingt so, als sollte ich das Buch auch einmal lesen.
Beste Grüße
Diana